Der forensische Psychiater Dr. Michael Hintersdorf hat den Kinderschänder von Augustdorf begutachtet. Mit ihm sprachen die AUGUSTDORFER NACHRICHTEN darüber, wie ein Missbrauch in einer Familie stattfinden kann, wie es sein kann, dass manchmal die Mütter nichts davon mitbekommen und auf welche Warnzeichen man bei seinem Kind achten sollte.
AN: Herr Dr. Hintersdorf, was sind das für Menschen, die ihr eigenen Kind vergewaltigen?
Michael Hintersdorf: Das kann man generell nicht sagen. Ein Teil der Übergriffe auf Kinder ist der Pädophilie zuzurechnen, ohne dass wirklich bei allen Tätern eine echte Pädophilie mit einer Vorliebe für präpubertäre Kinder vorliegen muss. Es gibt zahlreiche Konstellationen, die wir als Missbrauch im innerfamiliären Nahfeld bezeichnen.
AN: Was ist damit gemeint?
Hintersdorf: Diese können auch vorkommen, wenn keine Pädophilie im engeren Sinne beim Täter vorliegt. Zum einen muss man davon ausgehen, dass bei vielen Menschen pädophile Tendenzen unerkannt vorliegen können. Es gibt aber auch nicht pädophile Täter, die grundsätzlich dazu neigen, Schwierigkeiten im Beziehungsleben über sexuelles verhalten auszuagieren. Da ist es halt so, wenn die Täter egozentrisch strukturiert sind, sie dann auf Menschen zurückgreifen, die sie besonders gut manipulieren können. Und dazu gehören natürlich die eigenen Kinder oder auch Kinder, die im Verwandtschaftskreis leben.
AN: Wenn jetzt ein Täter mehrere Kinder hat, warum vergreift sich dann ein Täter an dem einen und nicht an dem anderen?
Hintersdorf: Das kann man so generell nicht sagen. Wenn es sich um heterosexuelle Täter handelt, wird sich dieser eher ein Mädchen raussuchen. Ansonsten kann es natürlich auch sein, dass auch der Junge rausgepickt wird. Natürlich erkennen die Väter, meistens sind es ja diese und nicht die Mütter, welches Kind leichter manipulierbar ist.
AN: Kann man sagen, dass in Familien, die in einer strengen Glaubenskultur leben, ein Missbrauch eher möglich ist?
Hintersdorf: Nein nicht unbedingt. Ich habe zahlreiche Begutachtungen vorgenommen. Missbrauch kommt in allen Arten von Familien vor.
AN: Wie kann es sein, dass eine Mutter nicht mitbekommt, wenn das eigene Kind missbraucht wird?
Hintersdorf: Ich würde spontan dazu drei Gründe nennen. Zum ersten wirken viele Täter inner- und außerhalb religiöser Familienverhältnisse manipulativ und unterschwellig bedrohlich auf die Opfer ein.
AN: Inwiefern?
Hintersdorf: Indem diese zum Opfer sagen: Du darfst das nicht verraten, sonst kommst Du ein Heim und ich muss ins Gefängnis. Dadurch bekommen viele Kinder Angst und schweigen dann. Darüber hinaus verstehen es viele Täter auch geschickt die sexuellen Übergriffe zeitlich und räumlich so zu legen, dass sie zunächst dem Ehepartner oder wie in diesem Fall der Ehepartnerin nicht sofort bekannt werden. Dann kommt es zu Übergriffen, wenn die Mutter außer Haus ist oder man macht einen Ausflug auf den Campingplatz. Das führt dann manchmal dazu, dass die Kinder die Vorfälle erst sehr spät zur Anzeige bringen, manche sogar erst im Erwachsenenalter.
AN: Und was ist der dritte Grund?
Hintersdorf: Manchmal erlebt man als Gutachter auch die Partnerinnen der Täter, von denen man sagen muss, dass deren geistige Differenziertheit überschaubar ist. Diese sind manchmal von ihrer Persönlichkeit einfach strukturiert und daher nicht in der Lage, das wahrzunehmen. Manchmal ist das Thema aber auch so schambesetzt und die Ehepartnerin ihrem Mann so verbunden ist, so dass aufgrund von Scham oder Furcht den Partner zu verlieren, keine genauen Fragen gestellt werden.
AN: Was sagt es über eine Familie aus, wenn ein Kind sich eher einer Freundin anvertraut, als den eigenen Geschwistern?
Hintersdorf: Wenn die anderen Geschwister klein sind, dann wird sich ein Opfer diesen nicht anvertrauen. Es gibt aber auch Familienverhältnisse, in denen das Opfer das Gefühl hat: „Ihr steckt doch eh alle unter einer Decke und wenn ich das sage, dann heißt es, dass ich lüge.“
AN: Haben Sie das mal erlebt?
Hintersdorf. Ja, ich hatte einen Fall, in dem sich ein Kind seiner Mutter anvertraut hat und diese dem Kind nicht nur nicht glaubte, sondern es dann auch geschlagen hat.“
AN: Auf welche Anzeichen sollte der Ehepartner beim Kind achten, und wie sollte er sich dann verhalten?
Hintersdorf: Das ist pauschal schwer zu sagen. Aber es ist immer auffällig, wenn sich ein Kind ab einem bestimmten Zeitraum ganz anders verhält als früher, wenn ein aufgewecktes Kind sich also auf einmal ängstlich verhält. Oder auch, wenn ein Kind nicht mit dem Partner alleine sein möchte. Auf diese Anzeichen sollte man achten.
AN: Was sollte man dann tun?
Hintersdorf: Dann ist es wichtig, mit dem Kind aber natürlich auch mit dem Partner zu sprechen. Darum finde ich es gut, dass in den Schulen heute pädagogisch vermittelt wird, was normale Vaterliebe ist oder was darüber hinaus geht und nicht mehr richtig ist.
AN: Was macht es mit einer Seele, wenn das Kind durch den eigenen Vater missbraucht wird?
Hintersdorf: So ein Ereignis kann schwere Störungen hervorrufen und eine Traumatisierung auslösen. Die Kinder können kontaktgestört werden, haben auch oft Schwierigkeiten, eigenen Beziehungen einzugehen bis hin zur Entwicklung erheblicher Störungen, wie Albträumen und allgemeiner Beziehungsunfähigkeit.
AN: Herr Dr. Hintersdorf, herzlichen Dank für das Gespräch.